Frühneuzeitliche Wissenskulturen in Bewegung

Wandel und Widerstand in Wissenskulturen der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Inga Mai Groote, Historisches Kolleg München
PLZ
80539
Ort
München
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
31.03.2022 - 02.04.2022
Von
Hein Sauer, Universität Zürich

Wie verändert sich Wissen in den Wissenskulturen der Frühen Neuzeit? Auf welche Weise ordneten die Akteure ihr Wissen neu? Und welche Ansprüche hatten Akteure und Gesellschaft an das Wissen ihrer Zeit? Diesen Fragen begegnete das interdisziplinäre Kolloquium „Wandel und Widerstand in Wissenskulturen der Frühen Neuzeit“.

Das Kolloquium behandelte eine Vielzahl an Wissenskulturen: Akademiewesen, Rechtswissenschaft, Diplomatie, Unternehmertum, Reiseliteratur, Musikpraxis und Musiktheorie. Es betrachtete das Wissen der Frühen Neuzeit und seine Träger aus unterschiedlichen Blickwinkeln und in der Vielzahl ihrer Erscheinungen. Die Beiträge vermittelten dadurch ein sehr vielfältiges und teilweise widersprüchliches Bild von Wissenskulturen. Selbst bei Übernahme eines einheitlichen Ansatzes trafen die Akteure der Frühen Neuzeit mit unterschiedlichen Gegenständen und Zielen auf unterschiedliche Praktiken, Überzeugungen und Tradierungen innerhalb der jeweiligen Wissenskulturen (Detel 2003).

Dies zeigt sich beispielsweise in der Übernahme von empirischem Wissen und Praktiken in der Jurisprudenz und der Musiktheorie. Während in der Rechtswissenschaft durch die Methode der Demonstratio das tradierte, praktisch-orientierte Recht über mathematische Herleitungen theoretisiert wurde, versuchten französische Musikpraktiker, die Musiktheorie von der mathematisch-orientierten, universitären Musiklehre zu lösen und auf die Beine praktischer Hörerfahrungen zu stellen.

Die Berührungspunkte der einzelnen Beiträge lagen daher nicht in den Gegenständen, sondern in den dahinterliegenden Phänomenen, die gerade durch die Vielfalt der Gegenstände hervortraten. Statt eines einheitlichen methodischen Vorgehens (Rationalismus etc.) standen Phänomene der Veränderung im Zentrum der Diskussion, vor allem solche, die als Innovation (Etablierung neuen Wissens), Popularisierung (Ausweitung des Geltungsbereichs) und Implementierung (Strategien zur tatsächlichen Durchsetzung) zu verstehen sind. Drei Aspekte zogen dabei immer wieder den Fokus auf sich und erwiesen sich als fruchtbar für den vergleichenden Austausch zwischen den Disziplinen: die Akteure, ihre Geltungsansprüche und das Einwirken auf die Wissensordnung.

In der Frühen Neuzeit traten neue Wissensgruppen in den Vordergrund, die die bestehenden Wissensordnungen mit neuen Ansprüchen infrage stellten. Insbesondere Praktiker wie Musiker, Diplomaten oder reisende Schriftsteller hoben die Bedeutung von inkorporiertem, habitualisiertem und nicht formalisierten Wissen hervor. Tradiertes Buchwissen wurde in ihren Schriften als statisch und nicht-empirisch kritisiert oder schlichtweg abgelehnt. Wissen z.B. über ferne Länder konnte ihrer Meinung nach nur Erfahrungswissen sein und nicht durch Lesen erworben werden.

Gleichzeitig formierten sich etablierte, akademische Wissensinstitutionen neu. Nicht selten wurde versucht, den akademischen Rahmen zu verlassen und sich der praktischen Anwendung zuzuwenden. So entstammten die kurpfälzischen Entrepreneure häufig den Akademien und Höfen. Wirtschaftlichen Unternehmungen wurden hierbei zu praktischen Anwendungsfällen von akademischem Wissen. Die Spannung von normativer Theorie und Praxis zeigt sich auch in den akademischen Preisfragen. Mit diesem Medium wirkten vorrangig französische Akademien auf die aktuelle, öffentliche Wissensreflexion jenseits der etablierten Wissensinstitutionen ein. Sie boten der Öffentlichkeit eine Möglichkeit, Wissen der Zeit grundsätzlich zu diskutieren.

Welchem Wissen Vorrang gewährt wurde, hing nicht zuletzt von den Akteuren ab. Im Kolloquium zeigte sich, dass die individuellen Biographien, institutionellen Bindungen und Bildungswege der Akteure einerseits die Voraussetzung für ihre Teilnahme an der Wissenskultur und anderseits auch den Austausch beeinflussten. Sie sind die Bindeglieder zwischen den Wissenskulturen.

Die Akteure konnten in Konkurrenz stehen. Dies wird unter anderem in der Kontroverse um die Nationalstile in der Musik sichtbar, in der Wissen von Praktikern mit dem Wissen aus der Universität in Verhandlung stand. Es sind aber auch die Akteure, die produktiv versuchen, mit den unterschiedlichen Geltungsansprüchen umzugehen. Die Verschriftlichung von Erfahrungswissen war trotz der inhärenten Diskrepanz das bevorzugte Mittel, um dem eigenen Wissen im Rahmen der res publica litteraria Geltung zu verschaffen. Meist war es jedoch die eigene wissenskulturelle Prägung, auf die die Autoren zurückgreifen konnten, wie es z.B. bei den universitär gebildeten und praktisch-ausführenden Kantoren der Fall war.

ANDREAS THIER (Zürich) diskutierte zum Beginn der Veranstaltung, wie nachhaltig die Adaption der Demonstratio als Methode auf die Jurisprudenz wirkte. Ausgehend von ihren Anfängen bei Samuel Pufendorf (1632–1694) gewann sie aufbauend auf dem mos geometricus spätestens mit der achtbändigen Reihe Jus naturae methodo sicientifica (1749) von Christian Wolff (1679–1754) großen Einfluss auf die akademische Rechtswissenschaft. Ihr Erfolg machte sie im 18. Jahrhundert zu einem elementaren Teil der juristischen Ausbildung. Das neue Vernunftrecht stellte die althergebrachte, praktische Rechtsprechung dabei nicht unbedingt infrage, wie Thier anhand Pufendorfs Einstellung zum Geldwert im Vertragsrecht zeigte. Von Anfang an stand damit die Frage im Raum, wie neues Wissen sich im Wissenskanon seiner Zeit positionierte.

Diese Perspektive ergänzte INDRAVATI FÉLICITÉ (Paris) um das praktische Wissen der Diplomatie. Im Mittelpunkt stand dabei die Rolle des Diplomaten in Frankreich. Anhand von Abraham de Wicqueforts (1606–1682) Abhandlung L’ambassadeur (Den Haag 1682) diskutierte sie zeitgenössische Ansichten zum notwendigen diplomatischen Wissen für den Dienst in der Ferne. Akademisches Rechtswissen war dabei lediglich ein Teilaspekt des Diplomatenseins. Das richtige – vor allem höfischen – Auftreten und erworbene Reisewissen wurde für den praktischen Dienst als deutlich wichtiger eingestuft als Buchwissen. Die Akkulturation der Diplomaten in der Ferne und im höfischen Leben hatte für die zeitgenössischen Autoren eine viel größere Bedeutung, als die formale Ausbildung. Hierin spiegelt sich nicht zuletzt das Selbstbild der zumeist adligen, französischen Diplomaten der Zeit wider.

Inwiefern praktisches und formalisiertes musikalisches Wissen im Austausch und in Konkurrenz standen, diskutierte LOUIS DELPECH (Zürich). Er betrachtete die Etablierung einer französischen Aufführungspraxis an den deutschen Fürstenhöfen. Am Beispiel von deutschen Höfen zeigte Delpech, wie die „französischer Musik“ als zuvorderst administrative Kategorie mit der Zeit zu einer Form der Aufführungspraxis wurde, die letztlich wiederum kodifiziert wurde. Mit dem Übergang vom praktischen Wissen zum formalisierten Wissen in den Vorreden bei Georg Muffat (1653–1704) erhielt der Diskurs um die Aufführungspraxis eine neue Dimension, die zur Beschreibung von Nationalstilen führte. Johann Matthesons (1681–1764) Nationalstile in Das neueröffnete Orchestre (Hamburg 1713) und Johann Heinrich Buttstedts (1666–1727) traditionalistische Kritik daran in Ut, Mi, Sol, Re, Fa, La, … (Erfurt 1716) illustrierte die Konfliktlinien der Zeit. Letztlich verhandelten beide, was als Wissen gelten darf und was nicht.

HIRAM KÜMPER (Mannheim) nährte sich dem Thema ausgehend von der Frage nach der Innovation in der ökonomischen Aufklärung. Kümper verglich die Situation in der investitions- und innovationsgetriebenen Wirtschaft der Kurpfalz mit der bürokratisch-kontrollierten und auf die Eisenproduktion konzentrierten Grafschaft Mark in Westfalen. Unterschiedliche geographische und administrative Voraussetzungen zeigen einen anderen Umgang mit neuem Wissen: In der Kurpfalz wurden Neuerungen aus dem Staatsapparat und den Akademien heraus gefördert. Die Innovatoren in der Pfalz traten dabei höfisch-orientierte Entrepreneure auf, die sich auf akademisches Wissen stützten, um teils waghalsige Projekte zu unternehmen, während in der Grafschaft Mark Innovationen aus kaufmännischen Erwägungen heraus zur Stärkung der bereits existierenden Industrie übernommen wurden und damit in dieser bisher oft als wenig fortschrittsoffen wahrgenommenen Region sehr wohl Akzeptanz fanden.

Eine Neudefinition von Wissen präsentierte THÉODORA PSYCHOYOU (Paris) anhand der Verhandlung der theoretischen Grundlagen der Musik in Traktaten des 17. Jahrhunderts. Praktisch-orientierte Musiktheoretiker wie der Kapellmeister Annibal Gantez (1607–1668) oder der Musiker und Pädagoge Étienne Loulié (1654–1702) proklamierten ein „empirisches Hören“ und damit (ganz im Gegensatz zur Rechtswissenschaft) eine Loslösung von den mathematischen Grundlagen der Musik als Teil der artes liberales. Sie stellten damit den bisherigen Ort des Wissens infrage. Musik sollte nicht mehr als Domäne der Philosophen erscheinen, sondern als Domäne der Musiker. Auf dem Gebiet der Kompositionslehre reklamierten die Praktiker hierdurch ihre Deutungshoheit.

Eine Neudefinition des Ortes von Wissen geschieht auch in den Preisfragen der französischen Akademien von 1670 bis 1750. MARTIN URMANN (Berlin) ging auf die Preisfragen der Akademien in ihrer Bedeutung für die Wissensreflexion ein. Den Ursprung für die Preisfragen sieht Urmann in der Quaestio, weshalb zu Beginn der Gattung eher grundsätzliche theologische und philosophische Fragen behandelt wurden. Erst im 18. Jahrhundert setzten sich naturwissenschaftliche Fragestellungen immer weiter durch. Die Preisfrage erlaubte den Akademien sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern über die eigenen Grenzen hinaus Wissen und das, was als Wissen galt, zu verhandeln. Es zeigt sich, dass der akademische Rahmen unterschiedlichen Akteuren eine besondere Zugänglichkeit ermöglichte.

Verdeckten Wissenskulturen nährte sich PHILIPPE CANGUILHEM (Tours, Honorary Fellow des Historischen Kollegs München). Er beschrieb praktisches Wissen in seiner schwer greifbaren Zeitlichkeit. Ausgangspunkt war hierfür die polyphone Improvisationstechnik des Cantus super librum. Er verfolgte die spärliche Verschriftlichung dieses Wissens von spätmittelalterlichen Marginalien bis zu Vincente Lusitano (gestorben nach 1561), der eine umfangreiche, aber noch nicht vollständige Kodifizierung liefert. Es zeigte sich, dass die Technik vom Mittelalter bis ins späte 16. Jahrhundert – zum Teil bewusst – nicht verschriftlicht wurde, wobei sie in der oralen Tradition stabil war. Zugleich regte er an, neu-wirkende musikalische Elemente in verschriftlichten Kompositionen auch in dieser späten Zeit stärker auf Bezüge zu Manifestationen oraler Praktiken zu befragen. Das eröffnete die Möglichkeit, die „Neuheit“ von Wissen in der Frühen Neuzeit infrage zu stellen.

DIRK WERLE (Heidelberg) betrachtete anhand von Adam Olearius’ (1599–1671) Bericht Moskowitischer und Persischer Reise (Schleswig 1656) die Strategien der zeitgenössischen Autoren bei der Übertragung von Erfahrungswissen in Buchwissen. Hierbei betrachtete er die physischen, ontologischen und textuellen Grenzen, die das Reisewissen überschreiten muss, um bei seiner Leserschaft anzukommen. Die Erfahrung spielte dabei zunehmend eine Rolle und wird zur Grundlage eines wertvollen Berichts über „die Fremde“ erklärt. Dabei verhandelt der Reisebericht zwischen Nichtfiktion und Fiktion, zwischen bekanntem und neuem Wissen sowie Gelehrtheit und Öffentlichkeit. Die Diskussion des Verhältnisses von literarischer Darstellung und diplomatischer Wissensliteratur schlug noch einmal den Bogen zu den Themen des ersten Tags.

Die Gastgeberin INGA MAI GROOTE (Historisches Kolleg München/Zürich) nährte sich der Position von Wissen noch einmal von der Seite der Akteure. Beispielmaterial lieferte für Groote der lutherische Kantor, der in seiner Stellung zwischen Lehrer, Akademiker, Theologe und Musiker in vielfältige Wissenskontexte eingebunden war. Diese vielfältige Einbindung drückte sich auch in seinen Schriften aus. Die meisten Schriften sind für den lokalen, praktischen Lehrgebrauch konzipiert und auf eine schnelle Vermittlung von technischem Wissen (Notenlesen) und Terminologie (italienische Begriffe) gerichtet. Groote thematisierte dabei auch die Publikationsstrategien vor dem Hintergrund des Buchmarkts und besonders wie das musikalische Wissen, z.B. bei Johann Georg Ahle (1651–1706), in ungewöhnliche und eher literarische Formate einfloss.

DANIEL BELLINGRADTS (München) Beitrag zum Umgang mit Papier als materiellem Wissenswandel konnte krankheitshalber leider nicht bei der Tagung gehalten werden.

Das Kolloquium hat gezeigt, dass die Phänomene der Veränderung in der Frühen Neuzeit vielschichtig sind. In den Beiträgen zeigten sich die Berührungspunkte über die Wissensordnungen und Geltungsansprüche der Akteure als produktiv, um der Vielschichtigkeit der Phänomene entgegenzutreten und sie jenseits einer linearen Erzählung einordnen zu können.

Konferenzübersicht

Inga Mai Groote (Zürich/München): Einführung

Andreas Thier (Zürich): Wie entsteht juristisches Wissen? Beobachtungen zu den Entwicklungsdynamiken von Rechtswissen um 1700

Indravati Félicité (Paris): Diplomatische Wissenskulturen in der Frühen Neuzeit. Wandel und Widerstand gegen Änderungen

Louis Delpech (Zürich): Französische Musik als Expertenwissen. Neue Zuständigkeiten in höfischen Institutionen (1660–1730)

Hiram Kümper (Mannheim): Innovation und Implementation. Durchsetzung und Popularisierung der „ökonomischen Aufklärung“ am Beispiel der Kurpfalz und der Grafschaft Mark

Theodora Psychoyou (Paris): Le „mathématicien-musicien“ versus le „jugement de l’oreille“. Empirisme musical et nouveaux paradigmes de théorisation en France au XVIIe siècle

Martin Urmann (Berlin): Die Preisfragen der französischen Akademien als Medien der Wissensreflexion (1670–1750)

Philippe Canguilhem (Tours/München): La pratique orale du contrepoint à la Renaissance. Un frein à l’innovation?

Daniel Bellingradt (Erlangen-Nürnberg): Papierverfügbarkeit und Papiernutzung in der Frühen Neuzeit: ein materieller Wissenswandel (ausgefallen)

Dirk Werle (Heidelberg): Reisewissen. Epistemische Situationen und textuelle Reflexionsformen der Grenzüberschreitung in deutschsprachigen fiktionalen und nicht-fiktionalen Reiseberichten des 17. Jahrhunderts

Inga Mai Groote (Zürich/München): Für wen schreibt der Kantor? Textgattungen, Buchproduktion, Wissensbestände